A review by marlonski
Der Glöckner von Notre-Dame by Victor Hugo, Friedrich Bremer

dark funny sad tense fast-paced
  • Plot- or character-driven? Plot
  • Strong character development? No
  • Loveable characters? No
  • Diverse cast of characters? No
  • Flaws of characters a main focus? Yes

3.75

Ich dachte mir, dass man "Der Glöckner von Notre-Dame" unbedingt mal in seinem Leben gelesen haben muss, da es ja immerhin ein Klassiker ist (und weil ich die Lieder aus dem Disney-Film/-Musical extrem gerne höre). Mit der Zeit bin ich bei anderen Literaturwerken der Gattung "Klassiker" eher skeptischer geworden, da zwar die Idee und der künstlerische Mehrwert oft gegeben und auch beeindruckend sind, dafür aber Stil und das Lesen selbst aus einer heutigen Leserperspektive doch eher zäh als angenehm sind. Beim "Glöckner von Notre-Dame" verhält es sich glücklicherweise anders! Ich hatte auf jeden Fall Spaß beim Lesen des Buches und das auch aus verschiedenen Gründen: Als erster Punkt - den ich auch selbst nicht beim Start dieses Werkes vermutet hätte - schießt mir sofort der Witz und Humor in den Kopf. Hugo hat es bereits vor fast 200 Jahren verstanden, bestimmte Situationen besonders lustig zu schildern. Als Beispiel:
Bereits in einem der ersten Kapitel wird eine Szene beschrieben, in der ein wichtiger Charakter für die gesamte Handlung, Pierre Gringoire, als Theaterstückschreiber versucht, seine neue Vorführung bei einer feierlichen Zeremonie an die breite Masse zu bringen. Die erfolgreiche Performance dieses Stückes wird jedoch von allen Seiten von allen möglichen Personen torpediert, sodass der Dichter direkt darauf seine Profession aufgibt und stattdessen Landstreicher wird.
Mich hat das beim Lesen sofort an einen Monty Python-Sketch erinnert.
Besonders glänzen die humorvollen Stellen durch den schönen Schreibstil und die sprachlichen Bilder, die Hugo immer wieder verwendet - auch im gesamte Restwerk. Immer wieder saß ich beim Lesen vor dem Buch und hatte ein genaues Bild davon im Kopf, wie die Szene gerade aussehen muss und dass obwohl der Autor in einer relativ schnellen Pace erzählt. Auch nicht gerade selten dachte ich mir beim Lesen "wow, das so zu beschreiben ist total clever, ich kann mir genau vorstellen, was er meint" und gerade das ist für mich eine der wohl größten Stärken des Buches - der tolle Schreibstil. Interessanterweise liest sich das Buch über große Strecken auch wie ein Theaterstück, da Hugo meistens erst das "Bühnenbild" durch eine kleinere, umfassende Beschreibung setzt und dann eigentlich oft längerer Dialog folgt. Ich weiß nicht, ob das gewöhnlich ist für Literatur aus der Zeit, aber ich wollte es nur einmal angemerkt haben.
Was wahrscheinlich ebenfalls auf die Entstehungszeit zurückzuführen ist, sind die Charakterisierungen der Figuren - und das meine ich leider nicht positiv. Einzelne Akteure fühlen sich nach Abschluss des letzten Kapitels in Anbetracht des kurzen Umfangs des Buches wirklich sehr "fleshed-out" an, insbesondere Claude Frollo und auch Quasimodo (auch wenn dieser für einen Großteil des Romans einfach nicht existent ist) sind total spannende Charaktere. Welcher Figurentyp allerdings kaum Beachtung findet (und surprise, surprise, das hätte man sich nach meinem Verweis auf die Entstehungszeit wohl kaum denken können /s), sind die Frauen/Mädchen des Romans. So kommt eine der wichtigsten Figuren, Esmeralda, wohl so ziemlich in fast jedem und mit Abstand am meisten in den verschiedenen Kapiteln vor. Wenn man nun jedoch denkt, dass Hugo daraus die Möglichkeit geschöpft hätte, ihr auch nur ein Fünkchen Charakter zuzuschreiben, ist man leider komplett auf dem Holzweg. Esmeralda bleibt von vorne bis hinten so unglaublich flach und als eigener Charakter so uninteressant, dass es einen schon relativ früh anfängt zu nerven.
Sie ist einzig und allein als Sexobjekt/Love-Interest für zwei bis drei Männer da und hat bis auf die Liebe zum Ritter Phœbus und ihren Hass für Claude Frollo eigentlich keine eigenen Interessen und stellt sich beim Verfolgen der beiden genannten auch unglaublich naiv an (zugegebenermaßen ist sie auch ein Kind, also hat sie auch noch ein bisschen Zeit, zu lernen. Ach ne, sie ist ja TOT!)
. Aber auch andere Frauenfiguren bleiben leider vollkommen uninspiriert. Klar lässt sich auch sagen, dass der Roman nicht den Bechdel-Test bestehen würde, das kann ich schon mal verraten - auch ohne Spoiler-Tag. Dieser ganze Kritikpunkt ist wie gesagt vor dem Hintergrund der Entstehungszeit zu sehen; ich denke Lesern und Leserinnen aus der Gegenwart wird dieser Punkt dennoch sauer aufstoßen, weil er total das Vergnügen am Buch selbst schmälert.
Nun zu meinem letzten Punkt: Das Pacing. Ich war gerade sehr erstaunt darüber, dass die meisten den Roman als "slow paced" getagged haben. Ich finde, dass die Handlung total schnell erzählt wird und wirklich von Handlungsstrang zu Handlungsstrang springt, ohne auch nur eine winzige Gelegenheit zuzulassen, mal in Ruhe zwei Figuren die Möglichkeit zu geben, sich zu entwickeln, oder diese interessant zu machen. Stattdessen wird der Leser wie mit einer Peitsche durch die Geschichte gejagt, was auch ab und an mal dazu führt, dass man sich denkt "boah, dazu hätte ich jetzt aber gerne ein ausführlicheres Kapitel gehabt" oder "oh man, da war die Lösung jetzt aber schnell und einfach". Gerade als ich am Ende es Romans dachte "ach cool, da wird sich jetzt mal richtig schön Zeit genommen, um den Klimax auszuerzählen" hörte das Buch auf einmal abrupt auf. Man fühlt sich dadurch sehr gehetzt und Charaktere bleiben dadurch - wie eben schon erwähnt - hauptsächlich flach.
Allgemein würde ich jedoch sagen, dass sich das Lesen definitiv lohnt! Selbst wenn es kein perfektes Leseerlebnis ist, ist es doch eins, wo ich definitiv einen Mehrwert herausgezogen habe.